Geschichte Villa Cassel
Anfang des 20. Jahrhunderts als mondäne Sommerresidenz des reichen Engländers Sir Ernest Cassel erbaut und nach Cassels Tod über Jahrzehnte als Hotel geführt, beherbergt sie nun seit 1976 das erste alpine Umweltbildungszentrum der Schweiz.
Erster Alpentourismus
Bereits anfangs des 19. Jahrhunderts hatten die Engländer mit der touristischen Eroberung der Schweizer Alpen begonnen und dabei auch die Aletschregion nicht ausgelassen. Von den Einheimischen mit Skepsis beäugt und als «Kraut-, Stein- und Bergnarren» verspottet, waren sie dennoch mehr als willkommen - brachten sie doch ein wenig Bargeld mit in die bis dahin nicht allzu sehr mit Reichtümern gesegnete Bergwelt.
Unter diesen Engländern war auch Sir Ernest Cassel, welcher Ende des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal die abgelegene Alp im Wallis besuchte. Jedoch kam dieser Aufenthalt nicht aus eigenem Interesse zu Stande.
Frische Alpenluft als Therapie
Wer war eigentlich dieser Sir Ernest Cassel? Sir Ernest Cassel wurde, anders als sein Name es vermuten liesse, am 3. März 1852 mit dem Namen Ernst Cassel als Sohn jüdischer Eltern in Köln geboren. Zahlreiche Orden sowie Auszeichnungen zeugten von der sehr hohen gesellschaftlichen Anerkennung, die Sir Cassel im Verlaufe seines Lebens genoss. Er heiratete 1878 die Engländerin Annette Maxwell und verkehrte bald auch in den angesehensten Londoner Kreisen aus Adel, Politik und Hochfinanz. Nachdem zu Beginn des Jahrhunderts aus dem deutschen Ernst Cassel «The Right Honourable Sir Ernest Cassel» wurde, berief ihn der englische König Edward VII 1902 zu seinem privaten Finanzberater und Geheimkämmerer.
Das anstrengende und aufreibende Leben Cassels zwischen seiner beruflichen Tätigkeit und gesellschaftlichen Anlässen hinterliess jedoch seine Spuren: Magenprobleme - heute würde man sie wohl auch als «Managerkrankheit» bezeichnen - plagten ihn. So vertraute sich Cassel dem Leibarzt der Königin Victoria, Sir William Broadbent an. Dieser verordnete Sir Ernest Cassel strikte Ruhe in der frischen und gesunden Bergluft. Da Broadbent ein grosser Freund des Aletschgebietes war und selbst schon so manchen Sommer dort verbracht hatte, legte er seinem Patienten genau diese Gegend ans Herz.
Liebe auf den zweiten Blick
Ob es die ärztliche Autorität war oder ob Cassel nach etwas Zeit zur Gewöhnung doch den vielfältigen Reizen der Landschaft, des Aletschwaldes und des Grossen Aletschgletschers erlag, wissen wir nicht. Aber er kam regelmässig wieder, nicht ohne sich schon bald nach einem Bauplatz für ein Anwesen umzuschauen, welches ihm und seinen Gästen eine standesgemässe Unterkunft bieten konnte.
Im Sommer 1899 fanden die wichtigsten Besprechungen für den Bau der geplanten Sommerresidenz hoch oben auf der Riederfurka statt. In einer Rekordzeit von nur zwei kurzen Alpsommern gelang es, diese 25-Zimmer-Villa auf der Riederfurka zu vollenden. Im August 1902 trugen sich die ersten Gäste in das Ehrenbuch der Villa Cassel ein, darunter viele Mitglieder der Familie von Ernest Cassel.
Diplomatie auf der Riederalp
Während des Sommers fanden sich jeweils auch zahlreiche bekannte und einflussreiche Gäste von Politik und Hochfinanz aus England, Deutschland, Frankreich und Amerika in der Villa Cassel ein. Darunter auch der junge Winston Churchill, der sich mindestens viermal hier aufhielt. Er nutzte die Zeit, um an seinen Büchern zu schreiben, unter anderem an der Biographie seines Vaters.
Auch 1914 waren bereits alle Vorbereitungen für den Sommeraufenthalt in der Villa Cassel getroffen worden und der Hausherr war schon eingetroffen. Zu keinem anderen Zeitpunkt mag die Telefonleitung von der Villa Cassel nach Brig eine derart bedeutende Rolle gespielt haben. Denn auch in letzter Minute versuchte Cassel zusammen mit anderen wichtigen Persönlichkeiten der Hochfinanz und Wirtschaft noch, die Regierungen von Deutschland und England umzustimmen und von einem Krieg abzubringen. Aber die verhängnisvolle Kaskade von Drohungen und Gegendrohungen, Ultimaten und Solidarität der verbündeten Staaten hatte sich bereits derart hochgeschaukelt, dass es keinen Weg zurück gab.
Abreise in letzter Minute
Sir Cassel verliess die Schweiz erst im bereits aufkeimenden Chaos im Sommer 1914. In den darauffolgenden Jahren liess er zwar weiterhin jeden Sommer die Villa für sein Kommen vorbereiten, jedoch verhinderten die Wirren des ersten Weltkrieges und Cassels immer schlechter werdender Gesundheitszustand seine Anreise. Sowohl die Sorge um sein finanzielles Werk als auch sein Misserfolg bei dem Bemühen um einen Frieden machten ihm zu schaffen.
Eine Epoche geht zu Ende
Cassel starb verbittert am 21. September 1921 in seinem Haus in London. Erbin des immensen Vermögens und damit auch der Villa Cassel war Edwina Mountbatton, Cassels Enkelin. Sie hatte sich in seinen letzten Lebensjahren treusorgend um ihn gekümmert. Nun aber stand sie vor der Frage, was sie mit der Villa Cassel auf der Riederfurka ebenso wie mit den anderen Landsitzen in England, Frankreich und der Schweiz anfangen sollte. Schliesslich strebten sie und ihr Mann hinaus in die grosse weite Welt und meinten damit eher Indien denn die Schweizer Bergwelt.
Ein Hotel entsteht
Daher wurde die Villa zusammen mit dem Chalet Cassel 1924 an die Hoteliersfamilie Cathrein verkauft und nachfolgend vorsichtig für den Hotelbetrieb umgestaltet. Die wesentlichen Strukturen und die besondere Atmosphäre des Hauses blieben dabei weitgehend erhalten.
Aber der Hotelbetrieb blieb mühsam und teuer. Beginnend mit den sechziger Jahren veränderte sich durch das Einsetzen des Massentourismus das touristische Publikum und seine Ansprüche. So wurde das Haus 1969 nach 45 Jahren Hotelbetrieb geschlossen. Zusehends verfielen Villa und Chalet Cassel...
Die Villa Cassel als neues Naturschutzzentrum
Nur knapp entkam die Villa Cassel einem Abriss. Das geschichtsträchtige Bauwerk wurde vom Schweizer Bund für Naturschutz, der heutigen Pro Natura, erworben und für über drei Millionen Franken gründlich renoviert und umgebaut. Die Villa Cassel wurde am 10. Juli 1976 feierlich neu eröffnet.
Seitdem hat sich sehr viel getan in der ehemaligen Sommerresidenz. Unzählige Menschen haben die Ausstellung und den Alpengarten besucht, zehntausende an den alljährlichen Kursen und Seminaren oder einer der Exkursionen in das Aletschgebiet teilgenommen.
Nach über 40 Saisons mit weit über 600'000 Besucherinnen und Besuchern wuchs das Bedürfnis das Zentrum energetisch zu optimieren und damit die Grundlage für eine erfolgreiche Zukunft zu schaffen. Geschäftsleitung und Zentralvorstand von Pro Natura haben dem Projekt zugestimmt und den Investitionskredit von 2,8 Mio. CHF beschlossen. Seit 2020 erstrahlt das Zentrum in neuem Glanz.